Die Freie Gruppe Stuttgart
 
1929 gründet eine Gruppe junger Künstler – darunter auch Alfred Lehmann – die "Stuttgarter Neue Sezession" – eine Ausstellungsgemeinschaft, die sich gegen die Autorität des Kunstestablishments wendet, mehrere erfolgreiche Ausstellungen durchführt, doch 1933 jäh dem Gleichschaltungszwang der Nationalsozialisten zum Opfer fällt.
Zu Beginn der 50er Jahre hat einer der ehemaligen Sezessionisten, der Maler Alfred Wais, eine Idee: Die Gemeinschaft soll wieder aufleben. Das Ergebnis ist die "Freie Gruppe Stuttgart", die – verstärkt durch eine Reihe zusätzlicher Künstler – 1952 mit einer viel beachteten Werkschau an die Öffentlichkeit tritt.
Der Weg zur Ausstellung
Nach ersten Sondierungsgesprächen im Jahr 1950 kommt es am 7. März 1951 zur offiziellen Gründung der "Freien Gruppe württembergischer Maler und Bildhauer". Die Suche nach einem geeigneten Ort für die erste Ausstellung gestaltet sich allerdings schwierig. Im nach wie vor stark kriegszerstörten Stuttgart herrscht akute Raumnot. Schließlich wird man doch fündig – und kann sich über das Privileg freuen, von 26. April bis 2. Juni 1952 die erste Nachkriegsausstellung überhaupt in der Stuttgarter Staatsgalerie durchführen zu können.
Allerdings hat Galeriedirektor Theodor Musper auch Forderungen: Die Ausstellung soll einen wirklich repräsentativen Querschnitt württembergischer Kunst zeigen. Und dazu gehören auch international renommierte "Aushängeschilder" wie Willi Baumeister und Otto Baum – selbst wenn sie den künstlerischen Prinzipien der Sezessionisten eher fern stehen. Beide nahmen als Gäste an der Ausstellung teil. Von der ehemaligen Neuen Sezession sind unter anderem Alfred Wais, Wilhelm Geyer, Manfred Henninger, Manfred Pahl und natürlich Alfred Lehmann vertreten. Der (zumindest heute) bekannteste Neuling ist HAP Grieshaber.
Konzept und Entwicklung
Ist die Freie Gruppe Stuttgart wirklich nur eine Neuauflage der Stuttgarter Neuen Sezession? Sicherlich war sie zunächst als solche konzipiert. Ernst Müller, der bereits kunstjournalistisches Sprachrohr der Neuen Sezession gewesen war, bezeichnet den aktuellen Zusammenschluss ausdrücklich als "Wiederholung" – und beschwört den Geist der 20er Jahre: Der Künstler braucht keine Autoritäten – nur seinen eigenen Kopf und seine eigene Kreativität. Als Ziel der Gruppe wird der Widerstand "gegen eine verwelkte Überlieferung einerseits und einen mehr vom Ausland angeregten Radikalismus andererseits" genannt, wobei ein selbstbewusster Lokalpatriotismus zutage kommt: Gerade die schwäbischen Maler hätten sich – so Müller – als besonders aufrechte Bastion gegen die Anfechtungen modischer Kunst-Seifenblasen erwiesen.
Dennoch: die Freie Gruppe Stuttgart erreicht nie die relative Homogenität und Durchschlagskraft der Stuttgarter Neuen Sezession. Das Bekenntnis zur Gegenständlichkeit, das die Neue Sezession geprägt hatte, wird durch prominente Gastkünstler wie Willi Baumeister durchbrochen – und gerade diese Gäste, die eigentlich gar nicht richtig "dazugehören", will die Öffentlichkeit vor allem sehen!
Kurz: Es kommt recht bald zu Auflösungserscheinungen. Schon bei der Wanderausstellung, die auf die Werkschau in der Staatsgalerie folgt, sind viele Künstler nicht mehr dabei: Baum und Baumeister gehen wieder eigene Wege. Und auch Alfred Lehmann verzichtet auf eine Beteiligung.
Erst 1963 findet eine weitere Ausstellung der Freien Gruppe – jetzt wieder mit einem umfangreichen Beitrag Alfred Lehmanns – statt. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die altbewährte Maxime "Im Gegenständlichen frei!" wieder definitiv durchgesetzt. Allerdings bleibt bei den ehemaligen Sezessionisten auf Dauer das Gefühl zurück, im Wettstreit mit der radikalen Moderne unberechtigterweise ins Hintertreffen geraten zu sein.
Die Ausstellung von 1952
Bei den Bildern der ersten Stuttgarter Ausstellung zeigt sich eine Schwerpunktverschiebung gegenüber den Ausstellungen der Stuttgarter Neuen Sezession: Passend zu den zeitgenössischen Diskussionen über Menschenbild und Kunst tritt anstelle der Landschaft der Mensch in den Mittelpunkt des Interesses. Dabei geht es nicht um naturalistische Personenporträts, sondern um die Beziehung des Menschen zur Welt. Henninger, Pahl, Wais, Wörn – sie alle nehmen sich dieses Problemkreises auf unterschiedliche Weise an.
Lehmann selbst präsentiert vier Ölgemälde aus den 20er Jahren sowie eine Landschaft aus dem Jahr 1951. Die 30er und 40er Jahre bleiben vollständig ausgespart und das Gros der gezeigten Lehmannschen Werke machen Arbeiten auf Papier aus: Allesamt Figurenbilder – mit mehrheitlich abstrakten Titeln wie "Komposition" (I bis V), "Zwei stehende Figuren" oder "Raum mit 5 Figuren".
So spiegelt der Auftritt der Freien Gruppe Stuttgart sehr genau die aktuelle thematische Orientierung Lehmanns wieder. Und wenn das Katalogvorwort Ernst Müllers Alfred Lehmann "als schwäbischen Impressionisten" preist, kann man eigentlich nur von einem großen Missverständnis sprechen.