Der letzte vollkommene Künstler

Paul Cézanne ist das große künstlerische Idol Alfred Lehmanns. Zeit seines Lebens bringt Lehmann ungeheuren Respekt für den französischen Ausnahmekünstler zum Ausdruck – und ist in dieser Hinsicht ganz auf einer Wellenlänge mit seinen Künstlerkollegen. Denn schon in den 20er Jahren – so weiß Lehmanns Freund Manfred Henninger zu berichten – wird der Franzose von den jungen Kunststudenten "als Bahnbrecher für alle künftige Malerei" gerühmt.
 
1949 hält Alfred Lehmann beim Stuttgarter Kulturbund und an der technischen Hochschule seinen breit angelegten Vortrag über Paul Cézanne (PDF 96KB). Dieser Vortrag bildet eine klare Antithese zur heftigen Attacke, die Lehmann im selben Jahr gegen die Theorien Willi Baumeisters reitet. In seiner Auseinandersetzung mit Cézanne offenbart Lehmann sowohl persönliche Sympathie für den lange verkannten Maler als auch eine enge Affinität zu dessen künstlerischem Ansatz.
 

Cézanne: Eine Ausnahme-Erscheinung

Bereits zu Beginn seiner Ausführungen betont Lehmann die "entwicklungsgeschichtliche Bedeutung" des "Meisters" – eine Bedeutung, "der nur Weniges in der gesamten Geschichte der Malerei sich vergleichen lässt". In diesem Zusammenhang kann sich Alfred Lehmann (einmal mehr) einen Seitenhieb auf den aktuellen Zeitgeist nicht verkneifen: Die wahre Größe Cézannes ist nur erfassbar, "wenn wir uns von dem Getriebe der Kunstöffentlichkeit entfernen und diejenigen befragen, die dem einzigartigen Phänomen der Cézanneschen Kunst wirklich sich zu nähern verstanden haben".
 

Annäherung an Leben und Werk

Alfred Lehmann nähert sich Paul Cézanne auf zwei unterschiedlichen Wegen: Über die Biografie und über die Theorie. Der erste Teil des Vortrags schildert die wechselhafte künstlerische Karriere Cézannes. Der zweite, weit umfangreichere Abschnitt (mit "Interpretation" überschrieben) beschäftigt sich vor allem mit Fritz Novotnys 1938 erschienenem Buch "Cézanne und das Ende der wissenschaftlichen Perspektive", aber auch mit Hans Sedlmayrs Cézanne-Deutung in seinem großen kulturpessimistischen Werk "Verlust der Mitte".
 
Lehmann geht es zum einen darum, die formalen Eigenheiten der Cézannschen Bilder herauszuarbeiten: Motivwahl, Größen- und Raumrelationen, Bildkomposition: Das sind Themen, die Lehmann bei seiner eigenen Arbeit intensiv beschäftigen und die auch im Cézanne-Vortrag eine wesentliche Rolle spielen. Doch dabei bleibt Lehmann, der immer auch die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge sieht, nicht stehen. Ihn interessiert die "Idee" hinter der Form – und so wird auch der Vortrag über Cézanne zur kunstphilosophischen Reflexion.
 

Cézanne und das Gefühl für die Welt

Fritz Novotny und vor allem Hans Sedlmayr vermissen in Cézannes Bildern das Emotionale, Ur-Menschliche. So schreibt Sedlmayr: "Cézannes Kunst ist ein Grenzfall … sie bereitet in ihrer unnatürlichen Stille den Ausbruch des Außermenschlichen vor. Denn sie führt dazu, dass der Mensch im Widerspruch zur natürlichen Erfahrung mit den anderen Dingen auf eine Stufe kommt. Bald darauf wird bei Seurat der Mensch wie eine Holzpuppe, ein Mannequin oder ein Automat erscheinen."
 
Alfred Lehmann ist in vielen Punkten mit Sedlmayr einig. Die von der "Kunstöffentlichkeit" so hoch gepriesene moderne Kunst ist auch für ihn vor allem ein Zeichen gesellschaftlicher (und moralischer) Degeneration. Doch den Vorwurf an Cézanne kann Lehmann so nicht stehen lassen. "Die Sedlmayrsche Feststellung vom Ausbruch des Außermenschlichen beginnt sich zu bewahrheiten. Cézanne, den ehrfürchtig Empfangenden, möchten wir mit diesen späteren Erscheinungen nicht, wie bei Novotny und Sedlmayr in Zusammenhang gebracht sehen."
 
Cézanne ist für Alfred Lehmann kein Übergangsphänomen, in dem sich bereits der Abstieg ankündigt. Ganz im Gegenteil: Cézanne ist absoluter Höhepunkt – Idealtypus eines Künstlers, der präziseste Wahrnehmung des Gegenstandes und Beherrschung des Formalen mit philosophischer Tiefe und intensivem menschlichen Empfinden verbindet. Bei Cézanne – so schwärmt Lehmann – "fühlen wir uns vom Leben nicht weggeführt". In seiner "Monumentalität ist Wahrheit und Macht der Dinge, ja es ist, als ob das Hinter-den-Dingen, der Weltgrund der Philosophen sich enthüllen würde."
 
Cézanne verkörpert das, was auch Alfred Lehmann mit seiner Malerei erreichen möchte: Erkenntnis der Welt mit den Mitteln der Kunst – bei tiefstem Respekt für die Göttlichkeit der Schöpfung. "Die Frage, vor die uns Cézanne stellt, der Maler, bei dem der Mensch aus der Tiefe seines Wesens sichtbar wird, ist keine ästhetische. Sie ist eine allgemeinste, die Frage, ob der Mensch dieses sein Leben noch einmal geistig zu durchdringen vermöge. Wird er es nicht können, so wird er als Mensch aufhören zu sein."
 
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