Junge Kunst sucht ihre Chance
Freier Zugang zum breiten Publikum. Freie Entfaltung der künstlerischen
Persönlichkeit: Dieses Programm bringt 1929 Bewegung in die Stuttgarter
Kunstszene. Hauptakteure sind der 30-jährige Alfred Lehmann und eine Reihe
junger Künstlerkollegen – und wie so oft geht es um Emanzipation: Schluss mit
der Bevormundung durch die etablierten Autoritäten! Das Kuriose dabei: Die
"Autoritäten" haben erst vor kurzem selbst dem Establishment den Rücken
zugekehrt: Die alte Stuttgarter Sezession, von der sich die "Jungen" jetzt
lossagen, ist gerade einmal 6 Jahre alt.
Zu den Gründungsmitgliedern der Stuttgarter Neuen Sezession gehören neben
Alfred Lehmann unter anderem auch Wilhelm Geyer, Manfred Henninger, Manfred
Pahl und Gustav Schopf. Ihr künstlerisches Credo: Der "Expressive Realismus" –
oder anders ausgedrückt: Man malt nur mit dem Herzen gut.
Die Hintergründe
Die Stuttgarter Neue Sezession wendet sich in erster Linie gegen die
Reglementierung junger Künstler durch den etablierten Kunstbetrieb. Denn die
Zeiten sind hart: Wer in größerem Stil ausstellen will – beispielsweise im
Rahmen der alten Stuttgarter Sezession – muss sich zunächst einer aufreibenden
Bewertungsprozedur unterziehen. Gut oder schlecht? Passend oder unpassend?
Diese Fragen beantwortet einzig und allein die allmächtige Jury. Junge Kunst
hat hier meist einen schweren Stand, was auch Alfred Lehmann schmerzhaft zu
spüren bekommt: Er gehört zu den vielen Kandidaten, die durchs Raster der
kritischen Professoren fallen.
Kein Wunder, dass der Ruf nach "Juryfreiheit" – nicht nur in Stuttgart – immer
lauter wird. In Berlin hebt Hermann Sandkuhl bereits vor 1914 seine äußerst
erfolgreiche "Juryfreie Kunstschau" aus der Taufe. Und die württembergische
Metropole erlebt nicht nur die Gründung der Stuttgarter Neuen Sezession,
sondern fast zur gleichen Zeit auch die Entstehung der "Stuttgarter
Juryfreien", die ein eher locker organisiertes, auf Statuten verzichtendes
Sammelbecken für jurymüde Künstler bilden.
Die Chronologie
Im Frühjahr 1929 wird die Gründung der Stuttgarter Neuen Sezession öffentlich
bekannt gegeben. Erster Vorstand ist Manfred Pahl, der bereits am 20. August
1929 mit einer programmatischen Rede das Ausstellungsdebüt der jungen
Künstlergemeinschaft im Gebäude des Württembergischen Kunstvereins eröffnet.
Ausstellende Künstler sind neben Alfred Lehmann und Manfred Pahl auch Gustav
Schopf, Manfred Henninger, Walter H. Kohler, Heinrich Wägenbaur und Erhardt
Brude. Die Rolle des Vordenkers übernimmt der Kulturjournalist Ernst Müller,
aus dessen Feder auch das Vorwort
zum ersten Ausstellungskatalog (PDF 48KB) stammt.
1930 beteiligt sich die komplette Stuttgarter Neue Sezession an Hermann
Sandkuhls "Freier Kunstschau" in Berlin. 1931 und 1932 folgen weitere
Ausstellungen in Stuttgart. Die Zahl der teilnehmenden Künstler steigt bis 1932
auf 17 an.
1933 wird die Stuttgarter Neue Sezession durch den nationalsozialistischen
Gleichschaltungsterror zur Auflösung gezwungen.
Die Grundsätze
Die Stuttgarter Neue Sezession ist zunächst eine Ausstellungsvereinigung, die
jungen Künstlern den Weg zu größerer Breitenwirkung ebnen will – ohne
frustrierende Bevormundung durch "graue Eminenzen".
Alle Gründungsmitglieder sind um die 30 und auch die
Statuten (PDF 44KB) geben mit ihrer
"Anti-Verkrustungs-Klausel" eine klare Richtung vor: Stimmrecht haben nur
Künstler, die jünger sind als 35!
"Authentisch statt autoritär!" ist die wichtigste programmatische Aussage der
Stuttgarter Neuen Sezession: Das Kunstwerk soll individueller Ausdruck des
Künstlers und nicht Echo akademischer Vorgaben sein. Und mit dieser
Grundhaltung im Hinterkopf ist man durchaus auch bereit, die Bedeutung purer
"technischer Perfektion" zu relativieren.
Das künstlerische Konzept
Ist die Stuttgarter Neue Sezession nur Emanzipationsbewegung oder auch
künstlerische Schule? Der erste Vorstand Manfred Pahl betont vor allem den
Befreiungsaspekt: Kunst muss "echt" sein und darf sich nicht verbiegen lassen –
wie sie ihr Ziel im Einzelnen erreicht, ist zweitrangig.
Alfred Lehmann hingegen legt auch Wert auf künstlerischen Gleichklang. Und
Tatsache ist: Wer sucht, der findet einen gemeinsamen Nenner, auf den sich alle
Mitglieder der Stuttgarter Neuen Sezession bringen lassen: den "Expressiven
Realismus" und die Rückkehr zu einer "malerischen" Malerei. Will heißen: Die
Bilder der neuen Stuttgarter Sezessionäre sind gegenständlich, nicht abstrakt,
aber dennoch Ausdruck einer inneren Befindlichkeit.
Manfred Henninger bringt es auf den Punkt: "Ich kann in der Malerei kein Ding
wiedergeben, sondern nur den Zustand, in dem ich mich bewege, solange ich sehe
oder mir vorstelle."
Die Technik der Maler hat dabei vieles den Impressionisten zu verdanken. Auch
Cézanne ist großes Vorbild – während sich das künstlerische Selbstverständnis
stark am Expressionismus orientiert.
Die Bilder
Auf der Leinwand nimmt der "Expressive Realismus" der Stuttgarter Neuen
Sezession naturgemäß ganz unterschiedliche Formen an. Denn – wie gesagt –
Individualismus ist und bleibt Programm: Manfred Pahl beweist die stärkste
Neigung zum klassischen Expressionismus – nicht selten mit
gesellschaftskritischen Untertönen. Bei Manfred Henninger wird das
Naturerlebnis zum impressionistischen Farbenspiel, das die Gegenstände auflöst,
ohne abstrakt zu werden. Wilhelm Geyer schwelgt in kraftvollen,
ausdrucksstarken Pinselstrichen und Franz Frank, der 1931 zur Gruppe stößt,
verhilft mit einer Serie von "Arbeiterbildern" dem Realismus zu seinem
Recht.
Alfred Lehmann selbst ist der heftige emotionale Ausbruch im künstlerischen
Schaffen eher fremd: Seine Grundhaltung ist meist meditativ – und sein
Verhältnis zur Natur durchaus harmonisch. Entsprechend beherrscht wirken auch
die Farben und Formen seiner Bilder.
Reaktionen und erzwungenes Ende
Die Ausstellungsaktivitäten der Stuttgarter Neuen Sezession werden von der
Öffentlichkeit überwiegend positiv aufgenommen. Lediglich die konservative
Presse tritt von Zeit zu Zeit mit kritischen Tönen auf den Plan. Doch auch
diese nehmen weniger die Kunst, sondern vor allem die Abspaltungstendenzen der
neuen Gruppe ins Visier. 1932 findet die letzte Werkschau der Stuttgarter Neuen
Sezession statt – die Zahl der beteiligten Künstler ist mittlerweile auf 17
angewachsen.
1933 wird die Gruppe zur Auflösung gezwungen. Von nun an führt der
"Reichsverband bildender Künstler" Regie – und Franz Frank kommentiert:
"Nun hat also das dritte Reich mit viel Gestank seinen Einzug gehalten. Bald
wird auch jedes anständige Bild, oder doch jedes, das irgendein Spießer nicht
kapiert, als kulturbolschewistisch behandelt werden. – Es werden auch wieder
andere Zeiten kommen, aber wohl nicht so bald ..."