Das Unbehagen am Umbekannten

1947 erscheint im Stuttgarter Verlag Curt E. Schwab Willi Baumeisters Buch "Das Unbekannte in der Kunst" – ein Werk, das die Führungsrolle der modernen, gegenstandslosen Kunst auch theoretisch zu untermauern versucht. Die Hauptthese: Nur Kunst, die über das Bestehende hinausgeht, alles Gewohnte hinter sich lässt, zum "Unbekannten" vorstößt, verdient es wirklich, Kunst genannt zu werden. Alfred Lehmann widerspricht vehement. In einem Vortrag – gehalten 1949 im kunstwissenschaftlichen Gesprächskreis des Tübinger Kunsthistorikers Wilhelm Boeck – geht der Maler mit Baumeisters Buch heftig ins Gericht (PDF 80KB). Dabei bleibt Lehmann nicht beim Streit um kunsttheoretische Positionen stehen. Die moderne Kunstszene – so Lehmann – ist symptomatisch für ein ganzes Zeitalter, das Halt und Orientierung verloren hat.
 

Die Grundthese Willi Baumeisters

Baumeister unterscheidet zwei Arten von Kunst: die rein nachahmende Kunst, der es lediglich darauf ankommt, ein Abbild der Natur herzustellen, und die schöpferische Kunst, die aus sich heraus Neues schafft.
 
Die Sympathien Baumeisters liegen klar auf der Seite der schöpferischen Kunst: "Der Wert der Werke liegt im Sichtbarmachen von bis dato unbekannten Erscheinungsformen", schreibt Baumeister – und ergänzt: "Kunst besteht nie in Regeln, sondern immer in Ausnahmen vom Standpunkt des Erfahrungsmäßigen". Daraus ergibt sich folgerichtig die bevorzugte Stellung der gegenstandslosen Kunst: "Erfahrung kann, was das zum Schöpferischen Bezügliche anlangt, nie auf Kunst angewandt werden. Das Unbekannte bildet den polaren Gegensatz zu jeder Erfahrung". Die Logik ist offensichtlich: Gegenstände sind Teil der Erfahrung, Erfahrung führt nicht zum Unbekannten – also muss wirkliche Kunst gegenstandslos sein. "Ohne jede Gegenständlichkeit oder Erinnerungsform der Naturerscheinungen wird sie (die Kunst) völlig zur Bildfuge ... Das Dekorative weit hinter sich lassend, will sie allein Erlebnis werden aus dem, was die Mittel hergeben."
 

"Die Unbekannten in der Kunst"

Lehmann ist kein Freund bloßer Naturnachahmung. Er sieht im FarbForm-Komponisten Adolf Hölzel einen "verehrenswerten Meister", bezeichnet die abstrakte Kunst als "geniale" Erfindung. Was also bringt ihn so auf gegen Baumeisters künstlerisches Programm?
 
Da ist zunächst einmal der Absolutheitsanspruch, den er bei Baumeister und der gesamten gegenstandslosen Moderne am Werke sieht. Das "Unbekannte in der Kunst"? In seinem Vortrag denkt Lehmann zunächst einmal an "die Unbekannten in der Kunst" – an Künstler, die von der Kunstöffentlichkeit einfach nicht wahrgenommen werden, weil sie dem Zeitgeist widersprechen, die aber dennoch Großes schaffen. Er führt als Beispiele aus der Vergangenheit (natürlich) Cézanne und Hans von Marées an. Wie kann Baumeister – so fragt Lehmann – ein definitives Urteil über Kunst oder Nicht-Kunst abgeben, wenn er überhaupt nicht in der Lage ist, einen vollständigen Überblick über die Kunst seiner Zeit zu gewinnen?
 

Wider die Weltlosigkeit

Aber auch auf Baumeisters Kunsttheorie geht Lehmann in seinem Vortrag ausführlich ein. Für Lehmann steht fest: Kunst kann sich von der Welt nicht abkoppeln. Kunst entsteht in der Begegnung mit der Welt: Die Natur wird aufgenommen und im Geist des Malers zu einer neuen, "erhöhten" Realität geformt. Wie bei Cézanne: "Cézanne hat vor der Natur ausgeharrt. Hundert Sitzungen ergaben ein Bildnis." Bei Baumeister, sagt Lehmann, ist das anders: "Baumeister begegnet nicht der Welt, sondern den Mitteln. Er ist weltlos."
 
Eine solche Weltlosigkeit hat nach Auffassung Lehmanns weit reichende Konsequenzen: Ohne Kommunikation mit der Welt verliert der Mensch den Blick fürs Ganze. Und die Kunst? Sie wird zu einem Sammelsurium zusammenhangloser Fragmente in einer ungeordneten, orientierungslosen Gesellschaft.
 

Kritik am Streben nach dem "Unbekannten"

Und dann ist da noch das ständige Streben nach dem "Unbekannten": Diese Gier nach immer Neuem, Anderem, Außergewöhnlichem gräbt – davon ist Lehmann überzeugt – allen zeitlosen menschlichen Werten, den "Konstanten des menschlichen Seins" das Wasser ab. Schließlich schreibt Baumeister klipp und klar:
 
"Das Künstlerische ist grenzenlos wie die Metamorphosen in der Natur. Es setzt sich beständig über das Durchschnittliche im Empfinden, Denken und über die vom Menschen gemachten Gesellschaftsgesetze hinweg, weil es vom Urleben ausgeht."
 
Rüttelt eine solche Auffassung – so fragt sich Lehmann – nicht an den Grundfesten der Gesellschaft? Und ist nicht gerade das Bekannte, die Übereinkunft, das allgemein Respektierte die Basis eines humanen Zusammenlebens? Willi Baumeister versus Alfred Lehmann: Hier treffen zwei konträre Weltanschauungen aufeinander.
 

Zwei Weltbilder im Konflikt

Keine Frage: Baumeister ist nicht weniger Humanist als Lehmann. Aber hinter Baumeisters Ideen steht ein anderes Weltbild – eine extrem dynamische, abenteuerlustige, im Grunde auch optimistische Interpretation des Daseins. In der permanenten Fort-Entwicklung – weg vom Bestehenden – liegt die Zukunft. Das Neue ist das Gute. Und die Künstler sind die Avantgarde, die immer neue Aspekte des Lebens zutage fördern.
 
Das kann Lehmann ganz und gar nicht unterstreichen: Sein Schlüsselbegriff lautet "Wiederherstellung" – einer harmonischen, ganzheitlichen Welt, die der Mensch gerade durch das Streben nach "dem Unbekannten" verloren hat. Um diese Wiederherstellung voranzutreiben, muss sich der Künstler jedoch auf die Welt einlassen und erkennen, was an der Tradition bewahrenswert ist. "Die Kunst ist dann", so zitiert Lehmann den Kunstphilosophen Leopold Ziegler, "nicht schlechtweg eine Art der Erkenntnis, sie ist vielmehr eines der Mittel, durch die sich der Mensch aus seiner vereinsamten Stellung zu erlösen ... sucht."